Doppeltes Empathie-Problem/DOP-pel-tes em-pa-TEE pro-BLEM/

Die gegenseitige Schwierigkeit, die autistische und nicht-autistische Menschen haben, die Kommunikationsstile und Perspektiven des anderen zu verstehen. Kein einseitiges autistisches Defizit, sondern ein zweiseitiges Übersetzungsproblem zwischen verschiedenen neurologischen Kulturen.

andy.alt

Andy sagt:

Stell dir zwei Radiosender vor, die auf unterschiedlichen Frequenzen senden. Keiner ist kaputt—sie können sich nur nicht gegenseitig empfangen. Jahrzehntelang sagten Autismus-„Experten", autistischen Menschen fehle Empathie, weil sie allistische Signale nicht lesen konnten. Aber Plot-Twist: Allistische Menschen sind genauso schlecht darin, autistische Signale zu lesen. Wir haben kein Empathie-Problem—wir haben ein Übersetzungsproblem. Wenn autistische Menschen miteinander reden, fließt die Kommunikation gut. Wenn allistische Menschen miteinander reden, dasselbe. Mischt man sie? Statisches Rauschen auf beiden Seiten. Trotzdem werden nur autistische Menschen zum Sozialtraining geschickt.

Aktualisiert 2025-01-27
Quellen: Neurodivergent Community
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Detaillierte Erklärung

Das doppelte Empathie-Problem, identifiziert vom autistischen Forscher Damian Milton, revolutioniert wie wir autistische Kommunikation verstehen. Es zeigt, dass Kommunikationszusammenbrüche zwischen autistischen und allistischen Menschen gegenseitig sind, keine einseitigen Defizite.

Kern-Erkenntnisse:

  • Bidirektionales Missverständnis: Beide Gruppen kämpfen damit, die sozialen Signale des anderen zu lesen
  • Kulturelle Diskrepanz: Wie zwei Kulturen mit unterschiedlichen Kommunikationsnormen
  • Machtungleichgewicht: Allistische Kommunikation wird als „korrekt" behandelt
  • In-Group-Erfolg: Autistische Menschen kommunizieren gut miteinander
  • Systemische Verzerrung: Forschung maß historisch nur autistische „Defizite"

Beispiele aus dem Alltag

Das Meeting-Missverständnis: Sarah (autistisch) teilt detaillierte Projektanalyse. Kollegen denken, sie will angeben. Sie denkt, sie ist hilfreich. Als sie Bedenken durch Gesichtsausdrücke andeuten, verpasst sie es komplett. Beide Seiten gehen frustriert, keine versteht die andere.

Der Freundschafts-Klick: Tom kämpft 30 Jahre mit Freundschaften. Dann tritt er einer autistischen Gaming-Gruppe bei. Plötzlich fließt die Konversation. Niemanden stören seine Monologe über Spielmechanik. Alle sprechen direkt. Er realisiert: ihm fehlten nie soziale Fähigkeiten—ihm fehlten kompatible Menschen.

Das Familienessen: Emmas Verwandte denken, sie ist unhöflich weil sie keinen Augenkontakt macht. Sie denkt, sie sind unhöflich weil sie schmerzhaften Augenkontakt fordern. Sie denken, ihr ist ihr Smalltalk egal. Sie denkt, ihnen sind ihre Spezialinteressen egal. Alle liegen falsch über alle.

Praktische Strategien

Für autistische Menschen:

  • Finde deine Kommunikations-Matches (oft andere neurodivergente Menschen)
  • Übe „kulturelles Code-Switching" wenn nötig
  • Erkläre deinen Kommunikationsstil vorab
  • Nutze schriftliche Kommunikation wenn möglich

Für allistische Menschen:

  • Lerne autistische Kommunikationsmuster
  • Frage direkt statt anzudeuten
  • Nimm fehlenden Augenkontakt nicht als Respektlosigkeit
  • Wertschätze Info-Dumping als Verbindungsversuch

Für gemischte Gruppen:

  • Explizite Kommunikationsnormen etablieren
  • Multiple Kommunikationskanäle nutzen
  • Verständnis regelmäßig checken
  • Verschiedene Interaktionsstile normalisieren

Community-Kontext

Die autistische Community in Deutschland umarmt das doppelte Empathie-Problem als Validierung:

  • Wir sind nicht kaputt, wir sind anders
  • Unser Kommunikationsstil ist valide
  • Allistische Menschen haben auch Kommunikationslimitationen
  • Gegenseitige Anpassung schlägt einseitige Konformität

Für Familie und Betreuer

Euer autistisches Familienmitglied versagt nicht bei Kommunikation—ihr kämpft beide mit Übersetzung:

  • Ihre direkte Kommunikation ist nicht unhöflich
  • Eure Andeutungen könnten für sie unsichtbar sein
  • Sie zeigen Liebe anders, nicht weniger
  • Missverständnis geht in beide Richtungen

Brücke bauen:

  • Sagt explizit was ihr meint
  • Fragt direkt was sie brauchen
  • Lernt ihren Kommunikationsstil
  • Erklärt euren Kommunikationsstil

Für Schule und Arbeitsplatz

Lehrkräfte: Hört auf, nur autistischen Schüler*innen „normale" Kommunikation beizubringen:

  • Lehrt alle über Kommunikationsvielfalt
  • Erklärt verschiedene Kommunikationsstile
  • Schafft multiple Teilnahmewege
  • Wertschätzt direkte Kommunikation

Arbeitgeber: Kommunikationsunterschiede sind keine Defizite:

  • Schriftliche Zusammenfassungen helfen allen
  • Direktes Feedback verhindert Missverständnisse
  • Multiple Kommunikationskanäle erhöhen Zugang
  • Klare Erwartungen nutzen allen Angestellten

Intersektionalität & Variation

  • Kultur: Manche Kulturen wertschätzen bereits direkte Kommunikation
  • Geschlecht: Frauen stehen unter Extra-Druck allistische Empathie zu performen
  • Race: BIPoC autistische Menschen navigieren multiple Übersetzungsanforderungen
  • Klasse: Zugang zu autistischen Communities variiert nach Ressourcen

Verwandte Begriffe

  • Allistisch - Nicht-autistische Menschen
  • Neurotypisch - Menschen mit typischer Neurologie
  • Maskierung - Autistische Eigenschaften verstecken
  • Code-Switching - Kommunikationsstil nach Kontext ändern
  • Kulturelle Neurodiversität - Rahmen von Neurotypen als Kulturen

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